Archiv der Kategorie: Rezensionen

Hier sammeln wir Rezensionen zu unseren Büchern.

Ct. de Bug „Rabea und die Roboter“

„Rabea und die Roboter“ von Ct. de Bug ist ein Entwicklungsroman, der sich wohltuend vom dem Einheitsbrei der Ponyhof-Romantik, Zauberer-Bücher und Jungs-und-Mädchenbanden-Geschichten für die Leserschaft der 12- bis 14-jährigen abhebt. In dreizehn lose zusammen hängenden Episoden beschreibt der Roman die Entwicklung der Teenagerin Rabea vom Beginn der Pubertät bis zur jungen Frau. Das Besondere an dem Buch: der Stil und die Komplexität der Geschichten entwickeln sich mit Rabea. Sind die ersten Geschichten noch von einer gewissen Schlichtheit und gut für 12-jährige geeignet, so werden die Episoden von Mal zu Mal vielschichtiger. Rabea begegnet auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden immer komplexeren Persönlichkeiten in immer verwickelteren Geschichten. De Bug eifert dabei auch hinsichtlich des viktorianischen Erziehungsideals seinem erklärten Vorbild „The Diamond Age“ von Stephenson nach, ohne dies jedoch, auch mit Blick auf die junge Leserschaft, wirklich erreichen zu können. Hierbei knüpft der Autor an die Vermittlung der klassischen Tugenden an und lehrt unterhaltsam, ohne zu belehren.

Die Rahmenhandlung ist rasch erklärt: sie spielt in einer Sternenregion am Rande unserer Galaxis in einer fernen Zukunft. Vor zwei Jahren tötete eine Epidemie fast alle Erwachsenen. Bis auf ganz wenige Alte blieben nur die Kinder zurück. Die zwölfjährige Rabea erhielt von ihren Eltern, einem Paar hoch dekorierter Diplomaten, vor deren Tod ein Raumschiff namens Aristoteles, einen überlebensgroßen Kampfroboter namens Nike, und den Rat, sich auf die Suche nach dem Heimatplaneten der Menschheit zu machen. Das Raumschiff ist dem Mädchen fortan Zuhause und Lehrer, und der Roboter bietet Schutz. Gerät Rabea in einer der Episoden einmal in zu große Gefahr, ist Nike der Deus Ex Machina, der Rabea immer wieder vor dem Wagnissen und Wirnissen einer von Robotern bewirtschafteten und von Kindern und Jugendlichen bewohnten Welt bewahrt.

Um es vorweg zu nehmen: am Ende findet die 19-jährige Rabea weder den Heimatplaneten noch die große Liebe. Ein Buch mit vielen offenen Enden. Charaktere werden in den Episoden entwickelt, um dann auf immer zu verschwinden oder in späteren Episoden in kleinen Nebenrollen wieder aufzutauchen. Ein Buch, das auch zum weglegen verleitet. Um es dann ein oder zwei Jahre später wieder in die Hand zu nehmen, wenn die junge Leserin oder der junge Leser die Reife für die nächste Episode erreicht hat. So wird Rabea erwachsen in einer Welt, in der es keine Erwachsenen mehr gibt. Und die Leserinnen und Leser mit ihr. Ein interessantes Experiment, auch vom literarischen Standpunkt.

Nr. 53 Brontë »Jane Eyre«

Vorher war alles weichgezeichnet. Erst vor gar nicht so langer Zeit verflog der Zaubernebel meiner Kindheitserinnerungen an die Sowjetunion der 70ger. Fast drei Jahrzehnte lang glaubte ich an die programmatische Gleichberechtigung innerhalb des Regimes. Von kolossalen Plakaten umgeben, auf denen heroische Traktoristinnen mit hochgekrempelten Ärmeln die endlosen Weizenfelder bestellten, maskuline Schweißerinnen im fernen Wladiwostok an Atom-U-Booten herumlöteten, und Kosmonautinnen das kommunistische Credo ins Weltall hinaustrugen, wurde ich zu einer Mini-Kommunistin herangezüchtet, indoktriniert und gebrainwashed. Für den Wettkampf mit dem Kapitalismus mobilisierte der Propagandaapparat jeden Sowjetbürger und jede Sowjetbürgerin.

Die Feuertaufe der Oktoberrevolution versprach die Abschaffung aller Misstände, die totale und endgültige Emanzipation aller Unterdrückten und die Errichtung einer gerechteren Weltordnung, in der sie die Herrschaft des Proletariats anstelle des Patriarchats glaubte installiert zu haben – Zeit für eine besonnene Prüfung der Misstände, für eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Problematik der Gleichberechtigung, zum Beispiel, blieb im Tumult der gespenstischen Ereignisse von 1917 nicht übrig. Stattdessen wurde systematisch an den ideologischen Voraussetzungen für eine kollektive Verdrängung vor sich hin gestümpert und mit dem Repressionsrüstzeug aus dem üppigen Arsenal einer Diktatur den Rechtstatt fachmännisch abgebaut. Vom Rest der Welt abgeschirmt – der Welt, die sich wandelte, blieb im Sowjetreich die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Umwälzung, einschließlich des klassischen Rollenverständnis’ der vorrevolutionären Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, aus. Das hierarchisch – und weiterhin patriarchalisch – aufgebaute Kollektiv, dem das Individuum generell untergeordnet war, stufte die Frau noch unter ihrem männlichen Genossen ein und führte zur ihrer absoluten gesellschaftlichen Ent- und Abwertung. Gewiss und gern, durfte sie Kohle abbauen, konnte jedoch ihren gewalttätigen kohleabbauenden Mann nicht zur Rechenschaft ziehen; auch konnte sie Schulter an Schulter mit Genossen die Baikal-Amur-Magistrale durch die sibirische Tundra legen, jedoch war sie dabei den Übergriffen ihrer Kumpels schutzlos ausgeliefert. Im Regime der glorreichen Zwangsvollbeschäftigung war Feminismus eine dekadente Doktrin der Kapitalisten, ein degeneriertes Hirngespinst imperialistischer Pseudo-Intellektuellen.

Zu Acht saßen wir an diesem, für Mitte Juli zu kühl geratenen, Freitagabend auf der üppig begrünten Terrasse und stellten zuletzt die Frage, die keine Besprechung dieses Werkes umhin kommt zu stellen: ist Jane Eyre ein feministischer Roman?

Durch das Prisma der feministischen Theorie begutachtet, ist Brontes Kühnheit, eine originäre Heldin erschaffen zu haben, deren Charakter weder in die Gussform des literarischen Archetypen einer liebenswürdigen Protagonistin passt, noch den gesellschaftlichen und sozialen Konventionen ihrer Zeit folgt, gewiss vorbildlich. Zwar bedient sich die Autorin durchaus einiger Klischees, sie werden indes als Genreverweis, Plotwerkzeug, oder schriftstellerische Unerfahrenheit marginalisiert.

Das morphologische und sozialökonomische Portfolio, mit dem Bronte ihre Heldin ausstattet, stellt Jane gesellschaftlich eine geringe Rendite in Aussicht. Schnell begreift Jane – geistig lebendig und wachsam – dass die Welt ihrer kümmerlichen Gattung kaum Lebensraum alloziert und nur bedingt bereit ist, sich ihrer zu erbarmen. Diese – ihre – von Männern beherrschte Welt, geprägt von Klassenbewusstsein, Sexismus, Rassismus und kolonialem Narzissmus, ist von Frömmlern, opportunistischen Schönheiten, verarmtem und verbittertem Landadel, hedonistischen Zynikern, selbstverleugnenden Extremisten, herrschsüchtigen Feiglingen, hysterischen Nymphomaninnen und devoten Kleingeistern besiedelt. In dieser Welt genügsam und autark zu sein, um nicht irregeführt oder von ihr überwältigt zu werden, um darin zu überleben scheint der einzig wirksame Lebensentwurf zu sein.

»…You must be tenacious of life«, beschließt Rochester süffisant, nach dem Jane ihm von ihrer Aufenthalt im Lowood-Internat erzählte. Seine nonchalante Bemerkung skizziert nicht nur Janes Charakter, sondern umschreibt en passant die katastrophalen Lebensbedingungen der Internate und Waisenhäuser der viktorianischen Epoche und offenbart die unhaltbare Misstände der Sozialstrukturen jener Zeit, von denen insbesondere Dickens, aber auch Elisabeth Gaskell noch berichten werden.

Jane ist entschlossen das Beste aus diesem ihrem Leben zu machen. Und ja, das ist Jane allerdings – eine Überlebenskünstlerin. Einige Zeit später, bereits trunken vor Liebe für sie, in einem rührseligen und wortreichen Rechtfertigungsmonolog, wird Rocherster diesen Überlebensdrang des Underdogs am eignen Leib erspüren:

 »…never was anything at once so frail and so indomitable. A mere reed she feels in my hand!…I could bend her with my finger and thumb… the resolute, wild, free thing … defying me, with more than courage – with a stern triumph…« 

Was seinem Bekenntnis folgt, verblasst neben dem Elend von Lowood, obgleich wir nicht umhin kommen, Jane selbst dafür verantwortlich zu machen, ihr Naivität und Weltfremdheit vorzuwerfen. Heimgesucht von Selbstzweifel und Schuldgefühlen, von Enttäuschung niedergeprügelt, droht ihr Willen unter der Belastung der gewaltigen Liebeserklärung und Selbstkasteiung Rochesters zu brechen. Es ist gewiss keine einfache Entscheidung – jeder moralisch empfindsame Mensch kennt solche Dilemmata zu Genüge. Tue ich mir Gutes oder handele ich moralisch richtig? Selten kann mit einer Tat beides befriedigt werden–in der Regel fällt das eine dem anderen zum Opfer. Und wenn irgendwie möglich, entscheiden wir uns, ähnlich wie Jane, unentschlossen zu sein – davon zu laufen. Bei manchen Lesern stößt diese Lösung auf Widerwillen, wahrscheinlich weil sie zutiefst menschlich ist.

Janes Flucht von Thornfield ist kein Zeugnis ihrer Stärke. Vielmehr spricht sie von einem verzweifelten Zugzwang eines Ratlosen – unnütz sind die Jahre des fleißigen Trotzes, der disziplinarischen Drosselung und Besonnenheit. Einsamkeit, Trostlosigkeit, Hungersnot – der Preis für ihren eigenwilligen Lebensweg – beschreibt Brontë erstaunlich wirklichkeitsgetreu. Vielleicht erst hier, nach gut 350 Seiten, gewinnt der protestantische Pappfigur-Wonder-Woman-Prototyp an Plastizität. Und die kulturelle Distanz, die zuvor die Anteilnahme an Janes Lage hinderte, verschwindet, als Bronte sich den universellen Belangen widmet – Sehnsucht, Ausgrenzung und Isolation. Der historische Kontext ist freilich lehrreich und verführt zugleich zu schulterklopfendem Eigenlob, in den 170 Jahren sozialpolitisch in causa Gleichberechtigung so weit gekommen zu sein, dass Janes kulturelles Umfeld, die Werte der viktorianischen Ära, wenn nicht als hanebüchen empfunden werden, uns doch zumindest befremden.

Seit der Aufklärung treibt die Selbstbestimmung die individuelle und soziokulturelle Dynamik in unserem Kulturkreis an. Gern auch allgemein »Freiheit« genannt. Oder »das Recht auf freie«, von äußeren Einflüssen unberührte, »Entscheidung«. Und es ist vermutlich diese fieberhafte Gier nach Selbstbestimmung, die aus Jane Eyre eine Emanzipation-Ikone machte.

Der Bestseller-Garant »Happyend« bedeutete 1847: Läuterung – Mäßigung – Konformität; anders formuliert: Plotgeplänkel – Heiraten. Charlotte Bronte scheint sich, auf den ersten Blick, den Konventionen unterworfen zu haben (sie selbst sehnte sich nach Veröffentlichung), in dem sie, wenig überraschend und allen Erwartungen nach, ihre selbstbestimmte Jane mit Eduard vermählt. Die begehrte Institution vermag die Autorin, auf den zweiten Blick, jedoch nicht zu romantisieren. Im Buch begegnet sie der Ehe mit rationaler Skepsis und kühlem Scharfsinn: Rochester windet sich vor seelischen Schmerzen, an Bertha durch die Ehe gefesselt sein zu müssen – von Happyend kann hier nicht die Rede sein. Und auch Jane zeigt sich reserviert, als ihr Vorbild Ms. Temple, zugunsten der Ehe auf den Beruf als Vorsteherin von Lowood-Internat verzichtet. Mit der Ehe, wusste Charlotte Bronte, wechselten bloß die Besitzer – vom Vater wurde die Frau an den Ehemann weitergereicht – an ihren Rechten (oder deren Defizit) änderte sich nichts. Im romantischen Bürgerturm des 19. Jahrhundert, durften Ehefrauen lächeln, nicken; die ehrgeizigeren Exemplare konnten sich beim Häkeln und Musizieren vollends verausgaben. Zur Zeiten Brontes erhitzte sich die Debatte über das weibliche Schriftstellertum – ob es sich für eine Frau ziemte, und wenn ja, worüber sie schreiben sollte; manche, sich auf die intellektuelle Dürftigkeit des Weibes berufend, fragten, von was wohl eine Frau zu berichten vermag? In Betracht dessen wirkt die noch andauernde Empörung über die Lohndiskrepanz einer Traktoristin oder Quoten-Kosmonautin als undankbare Nörgelei. Inzwischen, 170 Jahre nach Janes literarischen Geburt, scheint der Diskurs um Gleichberechtigung oder Geschlechtergleichheit obsolet. Ein wenig wahr ist es vielleicht: zumindest müssen wir nicht in den Mooren verrecken, wenn wir jemanden nicht heiraten wollen. Überhaupt müssen wir nicht verrecken, wenn wir uns entscheiden, die Rolle des Protegés nicht anzunehmen.

Und wenn sich auch die Bandbreite der Wahlmöglichkeiten jenseits des Lächeln und Nicken ausdehnte, widersteht der Wertekanon jedweder Anpassung, die Spielregeln der patriarchalischen Gesellschaft bestehen nach wie vor. Beispielsweise die Sache mit der Intuition. Dies war, noch vor ein paar Jahren ein weiblicher Vorzug. Soft Skills, Empathie, emotionale Intelligenz, etc. Hartnäckig setzt sich die Schablonisierung und Schubladisierung in männlichen aber auch weiblichen Köpfen fort, allen Forschungsbemühungen und -ergebnissen der Neuropsychologen und wie sie nicht alle heißen, zum Trotz. Rosa Püppchen und babyblaue Spielzeugautos. Ingenieure und Stewardessinnen. Päpste und Mütter Theresas….

Brontës Forderung, die eigene Integrität stets vor Augen zu haben, sein Handel danach zu richten, unbekümmert von der beliebigen Etikettierung des Zeitgeistes – ohne Ansehen des Geschlechtes – das gilt heute mehr denn je.

»…I am no bird; and no net ensnares me; I am free human being with an independent will, which I now exert to leave you.«

Nr. 30 Rossbacher »Hillarys Blut«

Das ewig-stumme Darübernachdenken

Auf der Suche nach leiblichem Amüsement pilgern bekanntlich Männer in die Hansastraße. Doch an diesem herbstlichen Maiabend (Freitag, 17. Mai 2013) war das Vergnügen eher geistiger Art und ganz unsererseits.  

Ein kleiner Gang, herzlicher Begrüssungstumult. Man ist untröstlich – die Zeit reichte nicht für ein Mitbringsel.  Damselá trägt selbstbewusst Komplementärfarben. Damsellena kommt direkt vom Flughafen. Damselnette hat ein Anschlusstermin im Tal. Wohnzimmer, in dessen einer Ecke eine leidende Yucca Palme zum Verkümmern hingeschoben wurde. Orientalische Läufer auf dem Parkett. Auf der Glasplatte des Couchtisches liegt ein Raffaelo-Teppich. Ich stelle meine Kokosraspeltüte dazu. Rum und Rohrzucker, Spießchen und Avocadobrei. Noch Eine auf dem Balkon rauchen. 

Es folgt die obligatorische Fotodokumentation der Exemplare der Lektüre: sie alle werden wahllos zwischen den Raffaelos und sich langsam leerenden Gläsern geschoben und gerückt. Zahllose Telefone werden zum Auge geführt. Ich krieche zum Beistelltisch vor der Yucca Palme in der Ecke, worauf das Buffet arrangiert ist. Die Spießchen sind schon weg. Es ist noch Ajvar, Avokadobrei und Fantakuchen übrig. Ich mache eine mentale Notiz: „nächstes Mal – früher kommen“. Zurück auf meinem Sitzkissen–Kelim–Pouf, schieb ich die Schale mit den Salzstangen näher an mich heran, um dem Rumgebräu Einhalt zu gebieten.

 

Den amusischen Umschlag des Taschenbuches ziert ein ödes Kontrastverlagzeichen, ein Cyan Dreieck und – da ist sie wieder, im unteren linken Eck – der spitze Fächer eines Yucca-Palmenblattes. Am Horizont rast, abgehend wie eine Rakete, die „Endless Joy“ ins innere des Buches, die Titelschrift blutet – dem Raumkontinuum trotzend – auf den Beckenrand des randabfallenden Schwimmbeckens; noch ist die Schriftgröße, in der der Name der Schriftstellerin gesetzt ist, der dem Titel des Buches untergeordnet. Bei der Umschlaggestaltung deuten nur die Escheresquen Bluttropfen auf Makabares hin. 

Schon die Qualität der Titelgestaltung, die in der Entwurfsphase auf Sand gelaufen zu sein scheint und höchstens für einen dritt-klassigen Reiseveranschtalterkatalog noch taugen könnte, hätte in uns ein leises Mistrauen auf die Beschaffenheit des Inhalts hin, wecken sollen.  Doch die Erfahrung lehrte uns Vorurteilsfrei zu sein: Längere Tage umschlug ein sehr ansprechender Titel – ein trügerisches Versprechen. 

Leider fällt mir zum dahinplätschernden Aneinanderreihen von Buchstanben Frau Rossbachers kein Vergleich ein. Zwar entsteht in der Natur das atemberaubend Schöne scheinbar unbemüht, die Schöpfung hierbei ist jedoch Ergebnis einer Überprüfung und Perfektionieren – also des stetigen Lektorates wenn man so will – über Jahrmillionen. Und dieses Phänomen setzt sich leider bei Menschenwerk fort: um den Eindruck von Mühelosigkeit – also der vervollkommneten Natürlichkeit – zu erlangen, bedarf es verbissenen Fleißes.

Die Naivität mit der Frau Rossbacher ans Handwerk herantrat, zeugt entweder von ausgewachsener Dummheit oder infantiler Unkenntnis; das Kriminalromangenre zu wählen, bestätigt eindringlich ihre katastrophale Selbstüberschätzung, denn diese literarische Gattung verlangt akute Intelligenz und strategische Raffinesse, zuallererst und mindestens bei der Plotgestaltung: sie wäre besser beraten gewesen, als ihr Erstlingswerk eine auto-biografische Liebesschmonzete zu verfassen, um sich an das Schreiben etwas zu gewöhnen. 

Dem tapsigen Möchte-Gern-Krimi konnten wir nicht mal eine drollige Absurdität abgewinnen. Es schien, als krümmten sich bei Damselnette die Zehennägel, als ich abermals versuchte das Gespräch zur Lektüre zurückzuleiten. Stattdessen suchten wir Trost in Rafaellos, Vergessen in Steffsells Wohl-und-Wehe-Mochitos, diskutierten über das Unterfangen Marcel Proust anzupacken, um nur die zehn-bändige Lektüre, als möglichen Anwärter für die nächste Leserunde kleinlaut wegzudiskutieren.

In unserer aktuellen Lektüre – Das Mädchen mit den gläsernen Füssen, beschreibt der Autor den Prozess des Schreibens, wie folgt:

»Often he compared his writing to white water. He had only to leap in to be dragged away on its rapids, thrown this way and that with his own will rendered impotent. «

Mir diesen pittoresken Vergleich vorm geistigen Auge haltend,  wünschte ich mir, Frau Rossbacher wäre laut- und buchlos untergegangen. Daß der Strom ihre Haare zu blass-blonden Schnörkel verwirbelt, sie zu einem ewig-stummen Darübernachdenken zu sich – in die Tiefe – herabholt.

Unser Abend mit Pong

Pong von Sibylle Lewitscharoff: das Buch und die Hauptfigur
Die Fragen:
Ist der große Ratsch nur ein Synonym für die Feder auf dem Papier, kommt Pong durch das Kratzen der Feder auf dem Papier in die Welt?
Ist Evamarie Urmutter und Mutter Gottes in einer Person?
Ist Pong Gott?
Die Aussagen:
Ja, Pong ist Gott – er schafft eine neue, beschleunigte Schöpfung.
Nein, Pong ist auf keinen Fall Gott – denn wenn er Gott wäre, woher kämen die Befehle, die er „von oben“ empfängt?
Kinder werden wie Haustiere behandelt, das ist abstoßend
Fortpflanzung ist technisch, das Beziehungsmodell reaktionär
Eine göttliche Schöpfung, die sehr düster ist.
Die Frau hat kein Herz
Die Zusammenfassungen:
Pong ist lyrisch, der theoretische Unterbau hat gestimmt – aber Pong transportiert nichts, löst nicht mal ein Gefühl „Gefallen“ oder „Nicht Gefallen“ aus, ist nicht emotional, nicht ärgerlich, ist lediglich eine Bühne für die Gabe der Autorin
Pong ist überflüssig
Pong ist gut geschrieben mit gegensätzlichen Bildern, es lohnt sich, das Buch gelesen zu haben.
Pong ist
  • krass, genial, vermessen, widerwärtig, geschrieben wie von einem Mann
  • erkennbar psychotisch
  • zu kopflastig, zu abstrakt, zu technisch
  • nicht zwingend ein Mann

Nr. 37

Heinrich Böll Fürsorgliche Belagerung
Freitag, 11. April 2014

Eindrücke und Gedanken
Seit Jahren engagiert sich Mariss Jansons, Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, in unnachgiebiger Überzeugungsarbeit, durch Spenden in Form von Gageverzicht für Münchens Musiklandschaft. Mit beharrlicher Hingabe hält er das Gespräch lebendig für den Bau eines neuen Konzertsaals in der Bayerischen Hauptstadt: mit Klagen über die unbestritten verpfuschte Akustik im Gasteig und die ebenso wenig ideale des Herkulessaals. Auf Reisen, beispielsweise in Japan, erfahren die Musiker des Orchesters, wie es auch in München sein könnte: »…der Klarinettist Werner Mittelbach erklärt, was die besondere Akustik der Suntory Hall ausmacht: „Dort hört man die Kollegen so, wie man sie hören muss. Und man hört sich selbst so, wie man sich hören muss. …« (SZ Magazin aus 
Heft 10/2008 München braucht einen neuen Konzertsaal! Ein Plädoyer. von Johannes Waechter) Auch in der aktuellen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung spricht Daniel Barenboim über das Zuhören. Als Spielender, aber auch als Publikum ist das aufmerksame, geduldige Zuhören die Voraussetzung, um Musik zu erschaffen und zu erfahren, die unentbehrliche Achtung vor dem Klang, aber auch vor der Stille, also dem Klanglosen, gegenüber.

Für Akustikbanausen wird die Tragweite der Entscheidung, eine gestalterisch wertlose IKEA Pendelleuchte wegzurationalisieren, erst später, im Gedröhn des Gesprächs von sieben Damen, akut bewusst. Erst später, inmitten von kakophonem Kauderwelsch, offenbart sich auch die Bedeutung von Geduld und Höflichkeit – das bedachtsame Selbstvertrauen, dem Gesprächspartner (oder den Gesprächspartnern) den gleichen Stellenwert einzuräumen wie sich selbst: das Stillsein. 

Unser Canetti-Treffen verliess ich mit Freude über das entstandene Gefühl, bereichert worden zu sein, das – im Nachreflektieren ersonnen – nur durch Zuhören entstehen konnte. Der Böll-Abend bot ebenfalls Momente, in denen das Stillsein und Zuhören weitaus bedeutsamer waren als die Selbstmitteilung. Durch Stillsein und Zuhören  – so absurd, wie es klingen mag – konnte die bis dahin herrschende Gedankenwirrnis aufgelöst, mit Neuem ergänzt und zu einem Sinnvollen vervollständigt werden. Während des Lesens entstehen unzählige, zusammenhanglose Skizzen, ein oftmals frustrierendes Weißes Rauschen der Ideen, das, wenn ich innehalte und den Anderen lausche, sich in Wohlklang auflöst. Des Öfteren werde ich von diesen Augenblicken der Luzidität übermannt – mit Hilfe der Ideen Anderer klingt die ohrenbetäubende Dissonanz ab, es bleibt nur das euphonische Echo des Verständnis’.

Eine Aussage hallt immer noch nach: Bölls bemerkenswerte Toleranz (von Gamsel lobend erwähnt), sein emphatisches, urteilsfreies Dokumentieren der Werdegänge und Geschehnisse, das Nicht-Richten über seine Charaktere finde ich, im Nachhinein, auch heldenhaft. Heldenhaft, wenn man bedenkt, wie meinungsstark Böll auftrat, wie bedingungslos seine Ansichten waren.

Bildeindrücke des Abends

© Rheinisches Bildarchiv Köln (Portrait Heinrich Böll)