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Der Talisman: oder Das Chagrinleder

»Ich las ›Das Chagrinleder‹ weiter und beschäftigte mich damit die übrige Zeit, wie ich denn in der Nacht mit dem 2. Theile fertig wurde. Es ist ein vortreffliches Werk neuester Art, welches sich jedoch dadurch auszeichnet, daß es zwischen dem Unmöglichen und dem Unerträglichen sich mit Energie und Geschmack hin- und herbewegt, und das Wunderbare als Mittel, die merkwürdigsten Gesinnungen und Verkommenheiten sehr consequent zu brauchen weiß, worüber sich im Einzelnen viel Gutes würde sagen lassen.« – Goethe

Während der vierten Damselslektüre Der Talisman, schlich sich ein verwirrendes Gefühl ein, dass ich am verblühten Glauben festhielt, Balzac sei ein großer Schriftsteller. Dieser Ansicht schloss ich mich an, nach dem ich sein Vater Goriot gelesen hatte. Unwillig glauben zu wollen, mich vor Jahren getäuscht zu haben, forschte ich in mir nach, weshalb ich mich damals am gewaltigen Pathos des Sujets, am aufklärerischen Unterton oder an den gezwungenen Dialogen nicht gestört fühlte und, obwohl die Lektüre einen unangenehm seifigen Beigeschmack hinterlassen müsste, blieb einzig eine wohlige Erinnerung an eine ganz große, gekonnt erzählte Geschichte.

Auf Anregen Dagdamsels, spekulierte ich, dass die mögliche Erklärung für die in der Pubertät entfachte Begeisterung für das Schwergewicht der französischen Literatur, in der Sprache zu finden sein könnte, denn meine erste Begegnung mit Balzac war auf Russisch.

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Zungenbrecherisch in der Ausprache und hart im Klang, ist das Lesen auf deutsch eine visuelle Achterbahnfahrt (das Auf und Ab der Groß-/ Kleinschreibung) und eine syntaktische Schnitzeljagd. Die Struktur zu durchschauen verlangt einem Nicht-Muttersprachler geistige Elastizität ab, so dass jeder erwähnenswerte Text in eben solcher zunächst den Intellekt anspricht.

Obschon die deutsche (preußische) und russische Geschichte eng miteinander verwoben sind und der Klang beider Sprachen durch das raue Klima abgehärtet ist, können die Volkspersönlichkeiten nicht unterschiedlicher sein: auch Französisch, mit dessen Kussmundgesäusel und der überkandidelt-verschwenderischen Selbstverliebtheit, steht dem bodenständigem Russisch diametral gegenüber. Und doch komme ich nicht umhin, zumindest in der Literatur eine latente Verwandtschaft zwischen dem Russischen und Französischen zu empfinden. Die zügellose Melancholie und das düstere Pathos der großen Gesten gefühlsduseliger Russen stehen interessanterweise der gehobenen Theatralik der Franzosen näher als der beherrschten Darbietung der Deutschen.

Nun gut, die Franzosen wussten ihre Kultur in die Welt hinauszutragen. Zu Zeiten der Frankophilie drohte der russischen Sprache fast das Aus. Im eisigen Wind der Tundra verweht, trug alleinig der Bauer für ihren Fortbestand sorge, während sie am St. Petersburger Hof eher stiefmütterlich behandelt wurde – in der Zarenresidenz wurde auf  französisch geflötet und gezischelt, und lange nach Puschkins Kraftakt Russisch salonfähig zu machen, erfolgte noch manch Geplänkel mit muttersprachlichem Selbstverständnis auf Französisch.

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Und während sich der russische Blick voll Sehnsucht Richtung Versailles richtete, büßte die deutsche Kultur gegenüber der nicht minder stolzen französischen nie an Selbstvertrauen ein; ob im freundschaftlichen Diskurs oder feindseligem Gefecht, wahrte die deutsche Kultur stets ihre Identität, sodass, während der Russe die Rettung aus dem kulturellen Permafrost in der Emulation sah, Kleist den germanischen Geist besang. (Die endgültige Legitimation erhielt Russisch erst nach dem gewalttätigen Ende der Monarchie und damit einhergehendem Einzug das Kommunismus, wobei sie zur Amtssprache der Sowjetunion erhoben wurde.)

Wie dem auch sei. Stets empfinde ich die französische Literatur in russischer Fassung (gar in Englisch) stimmiger als in deutscher Übersetzung, wobei besonders die Realisten wie Balzac und ihre Schwülstigkeit befremdlich erscheinen. Womöglich liegt dem Ganzen die Tatsache zu Grunde, dass meine Leseerfahrung in deutscher Sprache, die nicht meine Muttersprache ist, mehr auf geistiger und weniger auf intuitiv-emotionaler Ebene erfolgt.

Vielleicht war aber ganz einfach die mir vorliegende Übersetzung von Balsacs Der Talisman (Diogenes Taschenbuch, übersetzt von Emil A. Rheinhardt) ein Mist.

Bild: Louis Boulanger

 

*Nachtrag
Der in der SZ vom 2. Dezember erschienener Artikel über Balzac.
Artikel von Lothar Müller