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Die Wirschaflichkeit der Gefühle

Wo es schwierig ist, Großzügigkeit zu definieren, hilft die christliche Doktrin weiter, indem sie die Charaktereigenschaft, frei von Niedertracht und Kleingeist zu sein (»einen Zug ins Große habend« so Duden), in Wohltätigkeit umdeutet (oder unter sie subsumiert), von »sein« zu »handeln«, eine irgendwie abstrakte »Ahnung« mit etwas konktret Praktischem zu veranschaulichen. Dieses erstrebenswerte Verhalten (das »Gute« in der »Wohltat« ist sowohl eine inhärente Qualität der Handlung – eine gute Tat – als auch die immanente Qualität ihres Ergebnisses »Gutes tun«) ist die höchste Form der gegenseitigen Liebe zwischen Gott und Mensch, die nach der Lehre durch die Nächstenliebe oder im weiteren Sinne als Karitas verkörpert wird.

Ob als moralische Richtlinie, die den Handlungsrahmen einer sozialen Gemeinschaft vorgibt, oder als rational-optimistische Auslegung eines Naturphänomens, dem Konzept der Großzügigkeit liegt die unbedingte Vorraussetzung des Reichtums zugrunde (oder Barretts Lexikon entlehnt »Wohl«-stand). Religiöse Doktrinen verkünden die Existenz eines unerschöpflichen Überflusses, der die Großzügigkeit bedinge und ermögliche. Für den optimistischen Wissenschaftler (Ökonom, Philosoph oder Anthropologe) hingegen ist sie ein wesentliches Merkmal der Mechanik menschlicher Interaktion – die Nächstenliebe als selbstverständliche Voraussetzung und Ergebnis einer funktionierenden Gemeinschaft, im Tandem mit dem Konkurrenz-, Überlebens- und Glücksstreben. Die einen können sich ohne eine übergeordnete Quelle von Liebe (zum Bespiel »Gott«) keine Großzügigkeit (oder Wohltätigkeit) vorstellen, da alles menschliche bedrohlich erschöpflich sei. Das Konzept des Endlosen hingegen tröstet sie mit ihrer Ewigkeitsgarantie.

Wenn »Hergeben« oder »Schenken« die Großzügigkeit kennzeichnet, wie füllt der Mensch sein begrenztes Kontingent auf, wie gleicht der Mensch sein »Konto« wieder aus? Die »Großzügigkeit« als transaktionelle Handlung bedeutet jedoch einen Austausch des Verdinglichten, des sonst nur grob Fassbaren und Unmeßbarem.

Andere Trostkonzepte gehen davon aus, dass die Liebe, die vermeintliche Urenergie des Guten und damit der Großzügigkeit, aus einer universellen und ewigen Quelle entspringt, deren Dauerhaftigkeit sich einer kollektiven Teilhabe verdankt. Dabei geht es jedoch weniger um das Anzapfen und Einspeisen einer dingfesten Quelle vom Materiellen, sondern vielmehr um einen ortlosen Energiekreislauf des Handelns.

Warum einschränken oder sanktionieren, wenn das Handeln die treibende Konstante ist? Woher kommt das Phantom der Knappheit, das Großzügigkeit verhindert? Das »tough love« des Maßregelens und der Kritik, die »Austerität« im Zwischenmenschlichen?

Auch die Urväter des Utilitarismus versuchten, losgelöst von den christlichen Tugenden und jenseits von Gott und den imaginierten Urquellen der Liebe, das individuelle Glücksstreben und die Nächstenliebe miteinander in Einklang zu bringen: Warum tut der Mensch Gutes, wenn sein Handeln nur der Befriedigung seiner Bedürfnisse dient, wenn er nur sein persönliches Glück anstrebt und versucht Leid zu vermeiden? Für Bentham ist die Nächstenliebe keine logische Lücke in seiner ethischen Lehre. Er behauptete, dass wir Freude daran haben, anderen zu helfen, wenn wir sie in ihrem Streben nach Freude unterstützen – wenn wir anderen wohlgesonnen sind. (Wie so vieles in der Philosophie ist auch Benthams Schlussfolgerung zwar in sich schlüssig, aber schon deshalb schwer zu beweisen, weil Religion und die mit ihr einhergehende normative Ethik zumindest in der dokumentierten Geschichte den Anspruch erhoben haben, das menschliche Zusammenleben zu regeln. Nichts in der Geschichte deutet jedoch darauf hin, dass der Glaube an Gott die Nächstenliebe fördert oder behindert – eine Kausalität lässt sich rückwirkend weder nachweisen noch widerlegen, so dass beide Thesen argumentiert werden können. Mit einiger Gewissheit lässt sich jedoch sagen, dass Dogmatismus im Allgemeinen und religiöser Eifer im Besonderen der Nächstenliebe und Toleranz entgegenwirken.)

Fühlen und Denken
Während Platon die Dichter aus seiner utopischen Stadt verbannen will, weil sie die Seele unnötig beunruhigen, weil ihre Gedichte, Oden und Tragödien die Gefühle der friedlichen und vernünftigen Bürger aufwühlen, erkennt Aristoteles in den Störenfrieden einen therapeutischen Nutzen. Während Platon in der Verdrängung die einzige Strategie sieht, mit den Gefühlen umzugehen, erkennt Aristoteles, dass die Gefühle ohne Oden und Tragödien aus dem Gleichgewicht geraten, dass aber Oden und Tragödien es uns ermöglichen, das Gleichgewicht zwischen Gefühl und Verstand wieder einzustellen.

Wissenschaftliche Arbeiten sollten kritisch, aber wohlwollend gelesen werden. Darunter verstehe ich, dass der Leser davon ausgeht, dass die einzige Motivation des Verrfassers die Suche nach der Wahrheit, dem Erkenntnis und Wissen ist, die meist auf der Infragestellung des Kanons beruht, oft auf der Umkehrung des Bestehenden und Anerkannten, auf der Aufdeckung von Irrtümern, auf das Erweitern des Fragenkatalogs. Obwohl Aristoteles in der Poetik Platon an keiner Stelle erwähnt, scheint es sich um einen Dialog mit seinem Lehrer zu handeln, um die Irrtümer in dessen Denken aufzuzeigen, Platon durch logische Argumente (durch Vernunft) mit der Poesie zu versöhnen.

Ihre zugängliche, persönliche Herangehensweise sowie die verwirrende Kombination aus wissenschaftlichen Erkenntnissen und subjektiven persönlichen Erfahrungen haben mich dazu veranlasst, unsere letzte Lektüre »How Emotions Are Made: The Secret Life of the Brain« als pseudowissenschaftlich einzustufen, für mich das gefährlichste Genre der Selbsthilfeliteratur – ein Schaf im Wolfspelz (Mumbo Jumbo im Gewand der Wissenschaft). Ich behaupte außerdem, dass der lockere Schreibstil mich dazu verleitete, die Intention des Autors falsch einzuschätzen; es fiel mir schwer, das Wissenschaftliche vom Nicht-Wissenschaftlichen zu trennen. Vielleicht hatte Barrett eine Reihe von Zielen und Absichten, die auf ein zu breites Spektrum von Lesern abzielten, was im Grunde genommen das Objektive und Wissenschaftliche verwässern und unkenntlich machen muss.

Fazit
Ich wünschte, ich hätte das Buch mit mehr Wohlwollen gelesen, kritisch statt misstrauisch. Vielleicht hätte ich über meine starke emotionale Reaktion nachdenken und (nach der Lehre von Aristoteles) Sophokles oder Whitman dazwischenschieben sollen, um die überschüssige Emotion loszuwerden und mit mehr Großzügigkeit an Barretts Buch heranzugehen.