Wissen und Nichtwissen

Betritt man zum ersten Mal eine Wohnung, saust der hektische Blick umher auf der Suche nach der häuslichen Bibliothek. Die grausam voreilige Bewertung hängt nicht nur von der Anzahl der Regale ab: wenn vorhanden und mit Büchern gefüllt (Periodika, Kristallgegenstände, Langspielplatten,  Schuhe, DVD’s oder CD’s u. ä. sind kein Ersatz), streift der forschende Blick über den Inhalt, da das Ordnungsprinzip dessen nicht minder entscheidend ist – sind die Bücher nach Farbe, Größe, Themen oder gar LLC sortiert?

Während des Treffens zur Besprechung von Die Fackel im Ohr, inspiriert vom Vezas Memorieren vom The Raven von E. A. Poe, entstand der Gedanke nachzuforschen – frei nach Bradbury –  welche Lektüre eine jede Damsel für das Auswendiglernen wählen würde.

Nach welchen Kriterien wählt man nun das Buch? Länge, Unterhaltungsfaktor, persönliche Vorliebe oder kultureller Stellenwert?

6 thoughts on “Wissen und Nichtwissen

  1. fellow passenger

    „Frei nach Brandbury“ meint vermutlich Fahrenheit 451 von Ray Bradbury, wo Auswendiglernen der letzte Weg ist, wenigstens den Inhalt der verbrannten Bücher zu bewahren.

    Für so ein Szenario wäre der Unterhaltungsfaktor kontraindiziert, weil man es ja so oft wie möglich wiedergeben müsste. Unterhaltsames wird durch Wiederholung sehr schnell unerträglich. Man kann dies leicht an Werbespots in Kino und Fernsehen beobachten: die lustigen sind die schlimmsten.

    Die Länge scheint mir beliebig, zumal ich auch nur eine einzige Seite aus der „Kritik der reinen Vernunft“ als mindestens so lang wie das Gesamtwerk von Cees Noteboom empfinde. Vielleicht wäre man allerdings bei einer Seite Kant schneller fertig, sie auswendig zu lernen, sofern man sich nicht die Mühe macht, den Inhalt semantisch zu erschließen.

    Daher würde ich sagen, persönliche Vorliebe und kultureller Stellenwert liegen deutlich vorn.

  2. kubelick

    Mit Sicherheit ist die Wiederholung bei manchem Stoff unterhaltungsschmälernd. Allerdings, wie erklären Sie das Verhalten von Kindern, die sich nach Bekanntem sehnen, das ewige „noch mal“ beim abendlichem Vorlesen den Eltern die Aufgabe des schlaff-fördernden Vorlesens zwar erleichtern, doch – nach Ihre Theorie – ihr das Vergnügen rauben?

    Beim ehrgeizigen Vorhaben, den Raben zu memorieren, musste ich feststellen, dass sich beim Wiederholen zwar ein zu erwartender, jedoch durchaus notwendiger, Automatismus einschleicht, der die Worte zu inhaltslosen Klängen werden lässt. Allerdings, die Vertrautheit schärft , widersprüchlicherweise, den Blick, lässt ihn hinter der Schicht des Plots stets Neues erspähen/entdecken. Einerseits stumpft die Familiarität ab, andererseits sensibilisiert sie.

    Ihre Aussage „…Unterhaltsames wird durch Wiederholung …unerträglich…“ verwirrt mich ein wenig: meinen Sie: das Wiederkehren des Vergnüglichen oder die dem Unterhaltendem zugrundeliegende Anstrengung amüsant zu sein ?

  3. fellow passenger

    Der Verwirrung versuchte ich durch den Verweis auf Werbesendungen entgegenzutreten. Denken Sie an die Ben & Jerry’s Kinowerbung. Beim ersten Mal mögen der Name „Karamel Sutra“, die Kuh mit Presslufthammer auf dem Vulkan aus Karamel und Schokoladeneis(!) und der amerikanische Akzent dem Zuschauer vielleicht noch ein gequältes Lächeln entlocken, das schon beim zweiten Mal ausbleibt. Die dritte Vorführung zu ertragen ohne schreiend davonzulaufen, erfordert schon ziemlich viel Vorfreude auf das Hauptprogramm.

    Der gefühlt 14 Jahre alte Spot der Süddeutschen Zeitung hingegen kommt ohne Kalauer aus und schafft es, wie ich behaupten will, nur dadurch bis heute zumindest erträglich zu sein. Wiederholte Rezeption gleicher Scherze ist auf jeden Fall problematisch bis qualvoll.

  4. kubelick Beitragsautor

    Und wie ist es möglich, dass am Silvesterabend unzähligen Deutschen – jedes Jahr aufs neue – das Gestolpere über den Schädel des generischen Raubkatzenfellteppichs ein Lächeln abgetrotzt wird? Auch hier, beim „Dinner for one“ wird ungewollt mit Absicht um die Komik bemüht. Sie stimmen mir zu, das ähnelt -zumindest in der Theorie – worauf die Agentur, die den Werbespot für Ben & Jerry’s ersann, hinauswollte.

    Schlechtes, wie ich Sie verstand, wird durch Wiederholung nicht besser. Der Schmerz nimmt gewiss zu. Es verhält sich wie mit Lieferservicepizza: am nächsten Tag, in der Mikrowelle aufgewärmt, wird einem erst bewusst, was für Müll man sich nach Hause bringen hat lassen.

  5. fellow passenger

    Diesen Einwand anhand exakt dieses Beispiels habe ich antizipiert. Tatsächlich ist der running gag eine eigene Kunstform, die zum Einen davon lebt, jede Runde subtil zu variieren und zum Anderen strengen Regeln an Timing und Choreographie unterliegt. Fast jeder perpetuierende Scherz hat einen Durchlauf wo gerade nichts passiert, jedoch nie in den Runden eins oder zwei. Denn erst wenn der Zuschauer zu wissen glaubt was als nächstes geschehen wird, kann er davon überrascht werden, dass es nicht eintritt. Eine weitere beliebte Variante bei diesem Scherztypus ist es, den Lapsus von einer anderen Figur wiederholen zu lassen.

    Mit einem immer wieder vollkommen gleich dargebotenen Witz, wie einem vermeintlich unterhaltsamen Werbespot, kann es hingegen keine Überraschung geben, die für funktionierende Scherze nun einmal die conditio sine qua non darstellt.

  6. kubelick

    Auf die Vertrautheit (oder Ritual, wenn Sie so möchten), das operative Phänomen der Einschlaflektüre sowie des „Dinner for one“, gehen Sie gar nicht ein, Fellow Passenger. Doch am Ende des Tages, wenn alle Server herabgestürzt und alle Bücher zur Staub zerfallen, alle Kinos abgebrannt und alle Werbeagenturen pleite gegangen sind, bleibt einem doch noch sein Gedächtnispalast oder -verschlag, als Unterhaltungsrefugium. Ob Palast oder Bude, die Beschaffenheit dieses Zufluchtsortes ist hier nicht entscheidend, wohl aber die ihm zugrundeliegende Autarkie – das Programm bestimmt man selbst.

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